VERANSTALTUNGSREIHE GESUNDHEITS-VERSORGUNG: Solidarische Gesundheitszentren, Nachlese der Veranstaltung vom 10. Oktober 2023.

Die Poliklinik Veddel in Hamburg. Mit Milli Schröder (Verwaltung) und Phil Dickel (Hausarzt).

Solidarische Gesundheitszentren: wie die Poliklinik Veddel in Hamburg die Gesundheit viel umfassender sieht.

Am Dienstag, 10.Oktober 2023, berichteten im Kulturverein Plaatenlaase Referent*innen der Poliklinik Veddel über ihren gesundheitspolitischen Ansatz, über ihre Erfahrungen und ihre Umsetzung des Projektes.

Sie gehen davon aus, dass Gesundheit nicht nur medizinisch zu betrachten ist, sondern auch von den Lebensbedingungen, in denen ein Mensch lebt, abhängt.

Gesellschaftliche Verhältnisse spielen eine wesentliche Rolle für die Gesundheit. Dazu gehört zum Beispiel, sich gutes und gesundes Essen leisten zu können. Statistisch ist bewiesen, dass Armut ein wesentlicher Faktor ist: arme Menschen sterben bis zu 10 Jahre früher.

Traumatische Erlebnisse aufgrund jeglicher Formen von Gewalt beeinträchtigen psychisch und körperlich. Einsamkeit macht krank und so fort.

Es stellt sich die Frage: Warum die Menschen behandeln und sie dann wieder in die Verhältnisse zurückkehren lassen, die sie krank machen!? Eine gute Gesundheitsversorgung sollte solche Kreisläufe durchbrechen.

Die Poliklinik Veddel versorgt umfassend durch Sozialberatung, Rechtsberatung, psychologische Betreuung, Allgemeinmedizin, Hebammen und Community Health Nurses. (Kindermedizin und Gynäkologie fehlen zur Zeit noch im Angebot.)

Wichtig beim Konzept der Poliklinik ist die Betonung des Gemeinwesens und der Teilhabe durch die Einwohner des Viertels.

Die Patient*innen haben einen unkomplizierten Zugang zu einer ganzheitlichen Versorgung. Eine Patient*in kann, falls nötig, ohne Umstände an Sozialberatung, Wohnberatung, psychotherapeutische Betreuung weiter vermittelt werden und umgekehrt. Patient*innen müssen ihren Fall nicht immer wieder neu berichten und komplizierte Fälle können vom Team gemeinsam erörtert werden.

In die Koordination wird von allen viel Zeit investiert. Die Zusammenarbeit muss vorbereitet werden, denn es gibt wöchentliche Teamsitzung, Fallkonferenzen und bilaterale Teamsitzungen (Praxis, Pflege, Therapie …). Durch den Austausch werden die unterschiedlichen Aspekte zusammengeführt und es wird deutlich, dass die Zusammenarbeit für Alle zur Erweiterung der eigenen Sicht wichtig ist, Hierarchien werden hinterfragt und es kann gleichberechtigter und weitsichtiger agiert werden.

Insgesamt wird wesentlich mehr Zeit in die Patient*innen investiert, die Poliklinik macht keinen Gewinn, (es gibt auf der Veddel so gut wie keine Privatpatient*innen und viele Menschen sind ohne Krankenversicherung, werden dort aber trotzdem versorgt).

Da die momentane rechtliche Voraussetzung für eine ineinander greifende, ganzheitliche Versorgung fehlt, ist die Poliklinik noch sehr klassisch organisiert. Die allgemeinärztliche Versorgung der Veddel muss über die kassenärztlichen Praxen erfolgen. Die beiden Hebammen sind formal selbstständig. Alle anderen Angebote wie die Gesundheits- und Sozialberatung, die Pflegesprechstunde, die Psychologische Beratung, das Wohn-Cafè, sowie die Präventionsprojekte zu Diskriminierung und Rassismus (auf der Veddel besonders wichtig), zu Wohnungsproblemen, zu Armut und Gesundheit und Einsamkeit … sind im Verein angesiedelt. Die ca. 35 Mitarbeiter*innen sind alle teilzeitlich fest angestellt und die wesentlichen Entscheidungen werden vorwiegend durch den Verein getroffen.

Ziel der Poliklinik ist die Kooperation in den o. g. verschiedenen Bereichen, außerdem der Abbau von Hierarchien (was auf Grund der Historie insbesondere zwischen ärztlichem und pflegerischem Bereich schwierig ist) und die Angleichung der Bezahlung.

Finanziert wird die Poliklinik über Projekte, über die Stadt Hamburg und über klassische kassenärztliche Abrechnungen, sie haben zwei Kassensitze.

Angestrebt wird (falls Gesundheitsreformen es möglich machen) die Organisationsform eines einheitlichen nicht kommerziellen Gesundheitszentrum, außerdem die Erweiterung um eine Kinderarztpraxis und Gynäkologie. Auch eine ambulante Bettenstation (unter pflegerischer Leitung) ist vorstellbar.

In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass auch hier im Wendland eine bessere Verknüpfung von klassischer Gesundheitsversorgung, Sozial- und Wohnungsberatung wünschenswert wäre. Die pflegerische Versorgung (genannt Projekt Community Health Nursing) ist dabei besonders interessant.

Natürlich ist das Konzept Veddel für das Wendland so nicht zu übernehmen. Im ländlichen Raum spielen die Altersstruktur, die Verkehrsverhältnisse, die weiten Entfernungen, mangelnder Ärztenachwuchs auf dem Lande … eine große Rolle.

Was ist „Community Health Nursing“? Die Pflegekraft kann eigenständig ambulante Versorgung übernehmen, vor Ort, in einem Primärgesundheitszentrum, präventive und andere Beratung durchführen, sie ist als erstes ansprechbar …: dieses Projekt nimmt die Idee der Gemeindeschwester auf.

Es ist ein Modellversuch, der über die klassische ambulante Pflege weit hinausgeht, mit dem Organisieren und der Koordinierung von Versorgungsverläufen, Therapieverbesserung, Unterstützung bei der Gesundheitsförderung uvm.

Übrigens ist diese Einrichtung der Community Health Nursing (CHN) in vielen europäischen Ländern schon längst umgesetzt. Notwendig wäre eine Gesetzesänderung, damit diese Pflegekräfte selbstständig Diagnosen und Versorgungen in ihrem Bereich übernehmen können.

Grundlage für so einen Modellversuch wäre eine ausführliche Befragung über Gesundheits- und Sozialdaten, damit kann der notwendige Bedarf einer Gesundheitsversorgung ermittelt werden.

Die Idee von Primärversorgungszentren wäre gut, wenn diese nicht wieder auf klassischer Ärzteversorgung ausgerichtet wären. Die Pflegeversorgung Community Health Nurse wäre hier im ländlichem Gebiet die Möglichkeit, dazu beizutragen, den Praxenschwund und weitere schwindende gesundheitliche Versorgung aufzufangen.

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